Genderfreie Preise: „Haare haben kein Geschlecht, nur eine Länge!“

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Gleiches Geld für gleiche Leistung: Sind genderfreie Preise der neue Trend?
Foto: Shutterstock
Gleiches Geld für gleiche Leistung: Sind genderfreie Preise der neue Trend?

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Ob Mann oder Frau - das ist doch den Preisen egal! Bei Saloninhaber Ahmet Bilir aus Stuttgart herrscht seit dem Lockdown das Gleichheitsprinzip und jeder Haarschnitt kostet einheitlich 80 Euro. Heißt aber auch: Männer zahlen nun statt bislang 55 Euro den Preis des Frauenhaarschnitts. Kann man sich diese neue Preisgestaltung als Friseurunternehmer leisten oder laufen die Männerkunden ganz schnell weg? Das Salonteam Bilir berichtet in FMFM über den Ursprung ihrer Idee und die Reaktionen ihrer Kunden.

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Im Salon Bilir gibt es keinen Preisunterschied mehr zwischen Damenschnitt und Herrenschnitt. Saloninhaber Ahmet Bilir, seine Frau Annette und Salonleiterin Renata Marijanovic überlegten sich, dass nun endlich nach Aufwand und Dienstleistung und nicht nach Geschlecht bezahlt werden sollte. Eine längst fällige Anpassung an den Zeitgeist? Oder  ist es eher ein Preiskonzept, das nur verärgerte Kunden bringt?

Unternehmenswerte: Gleichheitsprinzip, Umwelt & Nachhaltigkeit

Team Bilir: Renata Marijanovic & Ahmet Bilir Team Bilir: Renata Marijanovic & Ahmet Bilir

FMFM: Die Genderdebatte läuft gerade heiß. Ist eure genderfreie neue Preisgestaltung ein grandioser Marketing-Coup?

Team Bilir: Mit Marketing hat das nichts zu tun. Wir hatten schon lange die Überlegung der genderfreien Preise, die sich ausschließlich nach dem Arbeitsaufwand und der Zeit richten und eben nicht nach dem Geschlecht. In der Zeit des Lockdowns war viel Zeit, um uns als Team damit auseinanderzusetzen und uns umzuhören. Wir wussten, dass es nicht nur Freudenschreie bei so einer Ansage geben wird, und auch, dass der eine oder andere denken wird, dass es hierbei nur um eine Preiserhöhung geht. Da die Genderdiskussion weltweit in den letzten Monaten immer mehr Gehör bekommen hat und wir uns in Deutschland ja seit langem schon mit Frauenquoten, dem schlechteren Durchschnittsverdienst bei Frauen, der Gender-Diskriminierung auseinandersetzen, haben wir unsere Überlegung nach dem Lockdown in die Tat umgesetzt. Letztendlich ist der Zeitpunkt, um mit alten Gewohnheiten zu brechen, immer ungünstig.

FMFM: Ist die neue Preisgestaltung nicht auch ungeheuer hip unter „kosmopolitischen“ Kunden?

Team Bilir: Das mag sein, jedoch war es nicht unser Ziel, hip zu sein, sondern eher auf Ungleichheiten aufmerksam zu machen, die aus einer anderen Zeit stammen und sich nicht angepasst haben. Was man daraus macht, ist jedem Friseur/Salon selbst überlassen.

FMFM: Wie waren die ersten Reaktionen unter den Kunden?

Team Bilir: Alle Herren, die vor dem Lockdown bei uns im Salon waren und bereits einen nächsten Termin hatten, konnten noch einmal den „alten Preis“ bezahlen. Denn wir wollten mit unserem neuen Konzept niemanden überrollen. Jeder sollte selbst entscheiden können, ob das neue Angebot so passt. Die männlichen Kunden waren natürlich überrascht und wollten eine Erklärung. Die meisten haben unsere Gedanken positiv und offen aufgenommen – manche sagten sogar, sie hätten sich ohnehin schon gewundert, warum es immer noch diese Ungleichheit gibt. Denn unsere Herrenkunden genießen schon immer den gleichen Service, die gleiche Dienstleistung und den gleichen Zeit- und Arbeitsaufwand bei einem 60-Minuten-Termin wie die Damen. Deshalb lag es auf der Hand, die Preise zu verändern. Die weiblichen Kunden waren dankbar, dass endlich einer auf diese Ungleichheit hinweist und auch etwas daran ändert – natürlich mit dem Risiko, dass Herrenkunden nicht mehr kommen oder man in der Öffentlichkeit als verrückt oder gierig dargestellt wird.

FMFM: Warum habt Ihr euch an dem höchsten Damenpreis orientiert und nicht das Mittel aus beiden Preisen gewählt?

Team Bilir: Herren bekommen eine genauso ausführliche Beratung, wie man es von den Damen kennt. Auch hier finden wir es falsch und von Vorurteilen behaftet, zu behaupten, Männer würden weniger Beratung wünschen und wären somit schneller fertig. Zum Service der Männer gehört: shampoonieren, Kopfmassage, auf Wunsch eine warme Kompresse, schneiden, erneut shampoonieren, um die Schnitthaare auszuspülen, föhnen, stylen. Der Haarschnitt soll harmonisch und proportional herauswachsen, sodass man mehr als vier bis sechs Wochen etwas davon hat. Wir bieten nach vier Wochen einen kostenfreien Konturen-Service an, der etwa zehn Minuten in Anspruch nimmt und dazu dient, störende Haare über den Ohren und am Nacken zu entfernen.

FMFM: Ihr sagt, dass Männer in der Regel die Besserverdienenden sind und sie sich die Preiserhöhung eher leisten können. Wenn wir es genau nehmen, ist auch das ein diskriminierendes Argument von euch?

Team Bilir: Wir haben uns hier rein auf die Zahlen des statistischen Bundesamtes bezogen, wo aufgezeigt wird, dass Frauen im Jahr 2020 in Deutschland 18% weniger verdienten als Männer.

FMFM: 2017 hat die damalige Leiterin der Antidiskriminierungsstelle gesagt: „Wenn eine Person allein wegen ihres Geschlechts mehr zahlen muss, verstößt im Grundsatz gegen das Diskriminierungsverbot.“ Warum ist in den letzten drei Jahren nichts passiert?

Team Bilir: Unserer Meinung nach ruhen sich viele auf dem Gewohnheitsrecht aus. Warum in den letzten Jahren nichts passiert ist, wissen wir nicht. Richtig etwas zu verändern, erfordert Mut. Man wird damit unbequem. Man stößt auf Widerstand und muss sich rechtfertigen und erklären. Man geht auch Risiken ein. Das sehen wir in allen Bereichen: Politik, Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft. Dabei finden wir es eben wichtig, dass gehandelt wird. Wir können die Frauenquoten deutschlandweit nicht eigenhändig verbessern, wir können auch nicht das Klimaziel allein stemmen, aber was wir in unserem kleinen Salon machen können, versuchen wir zu machen. Und dabei jeden Tag ein Stück weit über uns hinauszuwachsen. Schon bei der Eröffnung des Salons im Januar 2015 haben wir Produkte ausgesucht, die nachhaltig, ressourcen- und umweltschonend sind (Kevin Murphy, Hairstory und Foret Salt) und sogar PETA zertifiziert. Wir wollten tolle Produkte für unsere Kunden, aber auch die Nachhaltigkeit und den Umweltgedanken in der Balance sehen. Und jetzt sind wir eben mit dem Gleichheitsprinzip einen Schritt weiter gegangen.

FMFM: Würdet Ihr auch wieder zurückrudern?

Team Bilir: Nein. Wie heißt es so schön: Hair has length, not gender – Haare haben kein Geschlecht, nur eine Länge.

 

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