Leserbrief: Wenn Existenzen baden gehen…

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Sieht und spricht über die krassen Sorgen von Friseuren: Michael Rühl im Leserbrief
Foto: Michael Rühl
Sieht und spricht über die krassen Sorgen von Friseuren: Michael Rühl im Leserbrief

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Liebe Friseure, Ihr werdet gesehen! Auch außerhalb des friseurigen Dunstkreises – nämlich bei Endverbrauchern – ist Eure schwierige Lage inzwischen angekommen und Thema. So wie in diesem Leserbrief von Michael Rühl, der uns in diesen Tagen erreichte...

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Coronakrise wird zur Existenzkrise – Der Friseur als Symbolbild

Der Friseur ist für viele von uns, neben dem regelmäßigen Einkaufen, zu einem festen Ritual geworden. Zugegeben: Für mich hat die Natur den „Drei-Millimeter-Schnitt“ erfunden. Wo nichts mehr ist, braucht Kamm und Schere nicht mehr kreativ zu werden. Damit habe ich ein Problem weniger in dieser Pandemie und spare mir einen dieser sehr günstigen Haarschnitte, die es irgendwo in jeder Stadt, an jeder Ecke gibt. Die Arbeit ist hartes Brot, die Konkurrenz schläft nicht, und schließlich will der Kunde auch ganzheitlich bedient werden. Ein Tasse Kaffee, die Beratung zur Frisur, schnell noch den Boden am nächsten Platz gefegt und dann – das Virus.

Laden zu – und nu?

Die Politik beschließt den Lockdown und lässt die Geschäfte schließen. Man darf jetzt nicht mehr arbeiten und Geld verdienen. Das ist notwendig, wissenschaftlich logisch und für alle Betroffenen auch nachvollziehbar. Die Politik beschließt finanzielle Hilfen, verabschiedet ein Gesetz, damit diese Hilfen auch fließen dürfen. Und damit wären alle in der Übergangszeit glücklich und zufrieden. Überraschung!

Bittsteller statt Friseur

Als Sozialdemokrat überrascht mich die aktuelle Situation nicht wirklich. Denn es gibt Parallelen in unserem Sozialsystem. Sie sind jetzt „Bittsteller“ – und mit diesem Stempel müssen Sie nun einen Antrag stellen, auf Antwort warten, verlangte Beweise und Nachweise einreichen und auf Antwort warten. Bis Ihnen jemand sagt: „Wir haben von nichts gewusst, oder irgendwas ist irgendwo an irgendeiner Software defekt.“ Wen juckt es da, ob Sie Geld benötigen, die Miete, Telefon, Strom oder das Essen bezahlen müssen? Die Politik hat Zeit. Sie haben sie auch zu haben. So ergeht es Alg2-Empfängern, Aufstockende und allen anderen „Bittstellern“, wenn es darum geht, Hilfe vom Staat zu erhalten. Und wenn Sie sich nicht um einen Job bemühen, werden Sie sanktioniert. Welchen Job?

Wieviel ist genug?

Für Herrn Merz haben unsere Selbständigen in dieser Mitte der Gesellschaft schließlich zwei Millionen Euro und ein Flugzeug – da kann man Löhne und laufende Kosten ruhig vorstrecken. Für Frau Merkel hat der Durchschnitts-Deutsche ein Nettoeinkommen von 3.000 Euro – da reichen 60%-87% Kurzarbeitergeld vollkommen aus. Im Grunde nörgeln wir doch nur.

Die Puste geht aus

Doch lassen wir das grobklotzige Getue der Politik mal außen vor und kommen zur Realität: Die zugesagten Hilfen fließen nur zäh bis gar nicht. Zahlreiche Unternehmen warten sich die Beine in den Bauch und müssen Löhne im Voraus zahlen, die sie gerade nicht einnehmen. Dem gegenüber verdienen Friseure wahrhaftig nicht viel Geld und müssen mit dem Kurzarbeitergeld von etwa 600 bis 800 Euro über die Runden kommen. Ich brauche kein großer Mathematiker zu sein, wenn ich behaupte: sie schaffen keine halbe Runde! Und wenn beide Seiten dieser Wirtschaft Anträge stellen, die nur halbgare Ergebnisse bringen, sind sie schon beim Anlauf aus der Puste. Das von der CDU geführte Wirtschaftsministerium scheint die Ruhe zu bewahren. Vielleicht ähnlich wie beim Internet? Neuland? Ich mag dort nicht anrufen und mitteilen, die E-Mail sei schon erfunden. Ich hätte Angst vor der Antwort: „Die SPD ist schuld, die stellen zu viele Verbesserungsanträge!“ Schließlich haben sie auch behauptet, das mit dem Homeoffice würde nicht funktionieren, weil die Unternehmen erst Anträge stellen müssten. Blödsinn. Gerade beschlossen – geht. Vor lauter Antragsmanie macht sich vermutlich jemand ins Höschen, nur weil der Postbote klingelt. Das muss aufhören, wenn es um pragmatische Lösungen geht.

Nackte Existenzangst

Insolvenz ante portas? Viktor Schauberger sagte einst: „Wir bewegen falsch!“ Wenngleich er Förster war, muss er unsere Allerwertesten gemeint haben. 86.000 Friseure in Deutschland mussten schließen. 190.000 Angestellte leben mit Existenzangst und benötigen zusätzliche Leistungen vom Staat, weil das Kurzarbeitergeld in diesen prekären Jobs einfach zu niedrig ausfällt. Rücklagen gibt es auf beiden Seiten nicht und viele von ihnen werden den Anschluss nach der Krise nicht mehr finden. Sie werden Insolvenz anmelden müssen, weil laufende Kosten auch nicht immer sofort kündbar sind und ein Kredit häufig (weil man zu wenig verdient) abgelehnt wird. Der Grundstein dafür wurde schon gelegt: Jetzt nur noch mit drei Jahren durch die Insolvenz.

Werfen wir einen Blick auf Nageldesigner, Kosmetiker oder Fußpfleger – und wenn Sie betroffen sind, ergänzen Sie die Liste aus dem persönlichen Bereich. Die Friseure sind nur ein Symbolbild für einen Beruf, den wir Beachtung schenken müssen. Wir brauchen nach der Krise steuerliche Vorteile für Unternehmen und abhängig Beschäftigte in diesen Branchen, damit mehr Netto vom Brutto bleibt. Auch damit höhere Löhne gezahlt werden können, die wir alle für ein planbares Leben erwarten – und am Ende auch die Rente stimmt. Nicht weil ich Sozialdemokrat bin oder weil es etwa populistisch „Links“ sei – NEIN! – weil es einfach solidarisch erforderlich ist.

Gez. Michael Rühl