„Phönix, bitte zurück in die Asche!“

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Kennt das Spiel aus Licht und Schatten: Andi Ehrle
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Kennt das Spiel aus Licht und Schatten: Andi Ehrle

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Mehr Follower, mehr FB-Freunde, mehr Kohle… Gefühlt überholen die meisten sich selbst. Wie wohltuend kann es da sein, mal die Bremse statt das Gaspedal durchzudrücken? Andreas Sebastian Ehrle über den Switch von schnellem Fame zu echten Werten.

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Ich weiß nicht so recht, wie ich hier am besten anfangen soll. Vielleicht einfach aus dem Bauch raus und mit dem Gefühl, euch mal etwas nahezubringen, was tief in mir am Drücken ist. Es ist schon ein paar Jahr her, mein Leben war damals echt crazy und anders. Anders, als ich es jemals erwartet und erträumt hätte und auch anders, als es bei vielen anderen verlaufen ist. Es fühlte sich nach linker Spur an, mit 280 km/h über die Autobahn peitschen, mit dem offenen Dach. Das habe ich damals ab und zu gemacht. Mit einer Dose Jacky in der Hand, ab runter nach Konstanz an den See. Der ‚Highway to Hell‘. Das fühlte sich in diesen Momenten des Lebens richtig an, so falsch und verboten es auch war. Es spiegelte den Rhythmus meiner Seele wider, ich fühlte das Leben und tanzte zugleich mit dem Teufel.

Mein Fragezeichen…

Ich war damals gute dreißig und voller Fragezeichen. Geht da noch was oder mache ich konstant so weiter? Meinen Salon hatte ich schon ein paar Jahre, aber ich wollte eben mehr, raus in die Welt. Es war 2009 und es war meine Chance. Vielleicht die eine. „Top Cut“ nannten sie sie. Gesucht wurde Deutschlands bester Stylist in einer TV Casting Show. Der wurde ich zwar nicht, aber eben dritter. Die Hose war unten, der Gürtel verloren, aber ich war voller Drang nach Großem. Als die Sendung ausgestrahlt wurde, kam langsam der Fame, von Sendung zu Sendung etwas mehr. Mit ihm kamen harte und kurze Clubnächte mit allem, was dazugehört. Ein heftiges Leben war das. Neues TV-Zeug für Styling-Sendungen folgte, das ich annahm und es ging weiter. Mehr und mehr Sendezeit. Ich selbst in der Glotze. Das war so cool und neu für mich. Doch hat die Medaille des Lebens manchmal am Ende aber nur eine Seite…

Zahltag…

Das Geld kam und mit ihm aber auch der Frust. Ich kaufte mir Dinge, die ich früher immer haben wollte. Jetzt konnte ich es. Kurz fühlte es sich gut an, dann passierte aber das, was ich nicht vermutet hatte: Es belastetet mich mehr, als dass es mir gefiel. Damals waren es die nie zu Ende gehenden Nächte, in denen es so dunkel war. Ich konnte nicht mehr erkennen, wer es gut mit mir meinte und wer nicht. In meiner Welt voller Möglichkeiten war ich allein. Ich kannte mich so nicht… Ich hatte mich in dem, was ich doch so wollte, verloren. Mein Zeitgefühl war einfach weg. Ich saß oft da und starrte ins Leere. Meine Psyche war platt. Der Alkohol war damals mein bester Freund. Bis heute ist mir nicht ganz klar, wie ich da die richtige Ausgangskurve gefunden habe. Die Leichtigkeit in meinem Leben, eben das, was mich ausmachte, wo war sie hin?

Wenn ich mir nun das alles, was in dieser Zeit passierte, selbst erzähle, fühle ich Kälte und Leere. Es ekelt mich an und ja, es macht mir Angst. Ich war einsam. Oben zu sein bedeutet oft, die bessere Luft zu schnüffeln, aber auch, das Fallen einzukalkulieren. Und das auch, obwohl du noch immer oben bist. Es ist nicht für jeden oder jede gemacht.

Wie wäre das heute…?

Vor ein paar Tagen habe ich mit meinem Schwager Simon darüber gesprochen. Er meinte, wenn ich das, was ich damals alles gemacht habe, heute machen würde, wäre ich ein gemachter Mann! Mit bestimmt hunderttausenden Followern auf Instagram und ich könnte davon leben. Naja, das mag schon sein, aber ist das alles denn berechtigt? Da kommt man mal als Friseur ins TV. Man macht was draus, viele liken dein Zeug und wollen Teil deines Lebens sein. Sie folgen und beobachten dich und dein Tun auf Schritt und Tritt. Das würde bestimmt auch noch auf der Schüssel Quote bringen. Die Leute kommentieren alles, oft auch bestimmt mit dem Hintergedanken, dass du es siehst und ein Zeichen setzt. Hallo, kennen wir uns denn überhaupt? Was bedeutet denn heute noch ‚kennen‘? Was bedeutet es heute, ein Freund sein? Den ich vielleicht nie in echt gesehen habe? Wann habt ihr denn das letzte Mal jemanden einfach so draußen kennengelernt? Nicht über FB, Insta oder einer anderen Plattform. Oder ein Girl oder einen Boy einfach so abgecheckt? Nicht über Tinder klargemacht? Mit einem Hammer-Profil und vielen Followern. Viele davon am besten gekauft…

Es ist eine komische Zeit. Aus gar nichts wird oft viel gemacht. Totfiltern und Mucke drunter – und schon sieht alles aus wie eine professionelle Videoproduktion. Ein Post in Kinoqualität. Wieso sind wir Menschen denn so, dass jede/r von uns was Besonders sein will? Oft auch besser, schöner, toller als andere? Aus nichts wird viel beziehungsweise noch viel mehr gemacht… Werden wir so von den Medien getrimmt? Können wir uns noch ‚Face to Face‘ unterhalten oder haben wir dabei auch unser Handy in der Hand? Manchmal frage ich mich, ob die Menschen heute einfach nur einsam sind. Warum machen wir das alles so intensiv und verlieren uns dabei? Ich selbst bin da leider auch dabei und viel zu oft gefangen. Kommentare hierzu gerne im Feed.

Damals…

Damals fühlte sich der Erfolg irgendwie echter an. Man musste hart dafür arbeiten. Hatte keine Online-Plattform, auf der alles toll aussah. Es gab ja noch nicht mal eine Homepage, auf der du die Bilder von Kronleuchtern, Sektgläsern, deinen Arbeiten oder deinem halben botanischen Garten im Salon in Szene setzen konntest. Das ganze Zeug gab es sowieso nicht wirklich in den Salons. Und wenn du das heute nicht hast, bist du „oldschool“. Aber ist das schlimm? Ich glaube, dass viele Unternehmer*innen heute vergessen, was wir eigentlich machen: Haare schneiden, färben und mal eine Dauerwelle. Einfach gute Arbeit. Die Salons bieten oft viel zu viel drum herum. Hierbei gehen der Ursprung und das, worum es geht, oft verloren oder wir lenken davon ab. Ich sage immer: „Gib mir meine Schere und einen Kopf zum Schneiden und los geht’s“. Mehr brauche ich nicht. Silent Cut? Ohne mich! Wir werden mit Begriffen aus der Haarindustrie überrannt und müssen da ständig up-to-date sein. Die Kund*innen wissen manchmal mehr als wir. Da fragt man sich doch, wer denn hier eigentlich der/die Expert*innen ist. Danke Internet.

Damals musstest du dir eine zufriedene Kundin, die über Jahre zu dir kam, oft hart erarbeiten. Ihr Gründe oder den einen Grund geben, dass sie bei dir bleibt. Wie konnten wir uns damals denn ein Alleinstellungsmerkmal aufbauen? Wenn es am Ende dann wirklich nur diejenigen bemerkt haben, die den Salon auch besuchten. Werbung kann man sich kaufen, eine zufriedene/n Kund*in musst du dir verdienen! Das war eine komplett andere Zeit, aber ich finde, es war die authentischere. Meine Oma erzählte mir mal, dass der Haarschnitt bei ihr nach dem Krieg zwei DM kostete und die Kundin mit einem Ei im Gepäck kam. Das Ei war zum Haarewaschen da. Es gab damals kein Shampoo. Das ist schon echt krass und wo stehen wir heute? Vor vollen Regalen und einem komplett überfluteten Markt. Zeiten ändern sich und Zeiten ändern auch dich.

Mal eine direkte Frage an dich!

Wie ist es eigentlich zu erklären, wenn ein Insta-Daddy oder eine Insta-Friseurin, also jemand der den ganzen Tag lang immer Zeug postet, gleichzeitig wirklich für seine Kinder da sein kann oder den Salonalltag normal stemmen soll? Das klappt doch nicht! Bei den ganzen Coaches oder Speakern, die zurzeit aus dem Nichts kommen, ist es doch ähnlich… Jeder will dir das Eine erzählen, das dich erfolgreich macht und nach vorne bringt. Du als Leuchtturm unter den Türmen? Noch mehr Geld, Erfolg und Anerkennung? Ok, denke ich mir da. Brauchen wir das alles? Oder läuft es auch so? Es macht dich doch zu dem, der du bist, wenn du alles so machst, wie nur du es machst. Nicht so, wie es ein anderer vorlebt und du es kopierst. Und dafür auch noch bezahlst. Wir sollten aufhören, uns ständig mit anderen zu vergleichen und stattdessen mehr auf uns selbst sehen.

Der Turm… 

Steige doch mal hoch auf einen Fernsehturm oder ein hohes Gebäude und schaue runter. Die Menschen da unten sehen aus wie Ameisen. Du erkennst keinen Unterschied. Du erkennst die Klamotten, die Haare oder die Autos, die sie fahren, nicht. Trotzdem denkt jede Ameise, sie sei was Besonderes. Von weit oben betrachtet dann doch nicht! Genauso ist es auch, wenn wir bei der Betrachtung der Dinge etwas Abstand reinbringen. Dann wird vieles hinfällig. Die Dinge kommen und gehen. Ich habe in den vielen Jahren gelernt, um was es geht. Gelernt, was mein Herz fühlt. Oft liege ich nachts wach, kann nicht pennen und denke nach… Kennt ihr das? Oder schlaft ihr durch? Mir fehlen die Leichtigkeit, die Gleichgültigkeit und gleichzeitig kommen genau diese mehr und mehr zurück. Mir ist es nicht mehr wichtig, welche Klamotten ich trage oder wie ich damit wirke. Mir ist es egal, welches Auto ich draußen fahre. Trotzdem mag ich die Dinger. Aber eben für mich. Früher war mir das extrem wichtig. Es gab mir ein besonderes Gefühl. Und irgendwie schmückt es einen ja auch. Gleichzeitig ist es aber auch blöd. Es ist halt nicht das, was es zu sein scheint.

Man muss doch nicht immer bei allem dabei sein, was Trend ist, was sich als Zwang zeigt und was die Masse als richtig bestimmt. Manchmal ist es einfach cooler, „oldschool“ zu sein. Ihr kennt ja bestimmt die Erzählung vom Phönix aus der Asche. In der letzten Zeit ist der Himmel voll von diesen Vögeln. Ich selbst fühle mich besser, wenn ich der Phönix bin, der zurück in die Asche geht. Genau dahin, wo ich herkomme. In meinen Salon, hinter den Stuhl.

Euer Andi