Wer ist überhaupt noch kritikfähig?!

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Patric Susic über das gesellschaftliche Phänomen der Dünnhäutigkeit
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Patric Susic über das gesellschaftliche Phänomen der Dünnhäutigkeit

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Es scheint, als lebten wir in einer reinen Empörungkultur! Wo Kritik gleich Mobbing ist und Meinung gleich weichgespült wird - aus lauter Angst vor Cancel Culture. Aber warum sind wir eigentlich so dünnhäutig geworden? Als Friseurbranche und als Gesellschaft. Ein Kommentar von Patric Susic.

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Es gibt Momente, in denen ich mich frage, ob wir als Branche — und vielleicht sogar als Gesellschaft — irgendwann still und leise beschlossen haben, dass Kritik ein Angriff sei. Ob wir aufgehört haben, zwischen Meinung und Mobbing zu unterscheiden. Und ob wir uns in diesem weichgespülten Kokon aus Anerkennung, Likes und digitalem Schulterklopfen so sehr eingerichtet haben, dass jedes Fremdgeräusch wie ein Erdbeben wirkt.

Ein Gedanke nagte in mir, während ich darüber nachdachte, was es heute bedeutet, sich öffentlich zu zeigen — besonders in einer Branche wie unserer, in der Kreativität und Sichtbarkeit keine Option, sondern Grundbestandteile des Berufs sind. Ein Gedanke, der sich formte wie eine innere Stimme, die sagt:

„Moment mal… ab welchem Punkt haben wir eigentlich beschlossen, dünnhäutig zu werden?“

Denn seien wir ehrlich: Wer sich auf Instagram, TikTok oder sonst wo präsentiert, betritt eine Bühne. Und diese Bühne ist gleichzeitig ein Marktplatz. Man stellt seine Arbeit hin und sagt: „Hier bin ich, schaut her.“ Und natürlich kommt etwas zurück — manchmal Begeisterung, manchmal Gleichgültigkeit, manchmal Kritik.

Doch wann ist aus dieser ganz normalen Dynamik ein Minenfeld geworden?

Gedanke 1: Öffentlicher Raum bedeutet nicht streichelweicher Raum

Ich ertappe mich dabei, wie ich mir vorstelle: Jemand lädt eine Frisur hoch, ein Farbspiel, einen Schnitt. Kunsthandwerk eben. Minuten später kommt ein Kommentar:

„Ist nicht mein Stil.“

„Gefällt mir nicht.“

„Sieht unsauber aus.“

Und als Reaktion darauf?

Nicht ein interessiertes: „Warum? Was siehst du?“

Sondern ein beleidigtes Zusammenfahren. Eine Abwehrhaltung. Ein Gefühl persönlicher Verletzung.

Als hätte jemand nicht die Arbeit, sondern die Existenz infrage gestellt.

Ich frage mich: Wie kommt es, dass wir Kritik, Geschmack und Feedback verwechseln mit Angriff, Missgunst und Vernichtung?

Dabei ist der Unterschied so klar wie ein sauber geschnittener Bob:

  • Kritik ist nicht Mobbing.
  • Meinung ist nicht Hass.
  • Feedback ist keine Diskriminierung.
  • Anderer Geschmack ist kein persönlicher Krieg.

Wir reden von Handwerk und Kunst. Nicht von Identität, nicht von Herkunft, nicht von Geschlecht.

Es ist grotesk, dass alles in einen Topf geworfen wird — als hätten wir verlernt, Nuancen zu erkennen.

Gedanke 2: Ohne Kritik keine Entwicklung — eine unbequeme Wahrheit

Mir wird klar: Der wahre Skandal ist nicht die Kritik selbst.

Der Skandal ist unsere Unfähigkeit, sie auszuhalten.

Denn wie soll eine Branche wachsen, wenn jeder Kommentar nur noch als potenzielles Trauma verstanden wird? Wenn jeder Satz, der nicht nach Applaus klingt, sofort als Angriff gewertet wird?

Es ist eine paradoxe Zeit:

Noch nie hatten wir unendlich viele Möglichkeiten, uns auszudrücken.

Noch nie war Sichtbarkeit so erreichtbar.

Und gleichzeitig — noch nie war die Angst davor so groß.

Die Angst vor der Abwertung.

Die Angst, nicht genug zu sein.

Die Angst, kritisiert zu werden.

Die Angst vor „Cancel Culture“.

Ich sehe Kreativität, die sich selbst fesselt, bevor sie jemand anderes fesseln kann.

Friseure, die sich anpassen, um ja nicht anzuecken.

Schnitttechniken, die keine Experimente mehr wagen.

Farben, die nicht mehr mutig sind.

Stile, die weichgespült werden, bevor sie überhaupt geboren sind.

Warum?

Weil Kritik weh tun könnte.

Aber: Wo, bitte schön, soll denn Entwicklung herkommen, wenn wir jede Reibung vermeiden?

Wer ohne Widerstand lebt, lebt ohne Fortschritt.

Wer ohne Kritik lebt, lebt ohne Richtung.

Es ist wie ein Gedankenspiel: Stell dir vor, jemand würde dir nie sagen, was nicht funktioniert.

Wie willst du dann besser werden?

Gedanke 3: Cancel Culture – das Gespenst im Hintergrund

Ich ertappe mich dabei, wie ich mich über die Angst wundere, die überall mitschwingt. Eine Angst, die größer ist als jede tatsächliche Gefahr: die Angst, gecancelt zu werden.

Ein falsches Wort, ein unpassender Kommentar, eine unpopuläre Meinung — und schon meint man, den digitalen Tod vor Augen zu haben.

Doch seien wir ehrlich:

Meistens ist es nicht Cancel Culture.

Meistens ist es einfach nur ein Kommentar, der nicht ins Weltbild passt.

Ein anderer Geschmack.

Ein anderes ästhetisches Empfinden.

Kritik ist nicht canceln.

Eine Meinung ist nicht canceln.

Jemandem zu sagen „Dein Werk spricht mich nicht an“ ist nicht canceln.

Cancel Culture ist real — ja. Aber sie ist nicht überall. Und vor allem ist sie nicht dann am Werk, wenn jemand einfach nur ehrlich ist.

Wenn wir die Angst vor kritischen Stimmen so weit aufblasen, dass sie jede Kreativität erstickt, dann machen wir uns selbst klein. Dann brauchen wir keinen Gegner mehr — wir sind unser eigener.

Gedanke 4: Wir müssen wieder lernen, auszuhalten

Ich frage mich: Was wäre, wenn wir wieder mehr Mut hätten?

Mut, Kritik zu hören, ohne zusammenzubrechen.

Mut, Feedback zu nutzen, statt es zu fürchten.

Mut, verschiedene Geschmäcker auszuhalten.

Mut, wieder professionell zu sein.

Denn professionelle Größe zeigt sich nicht darin, wie viele Likes man bekommt — sondern darin, wie souverän man bleibt, wenn jemand anderer Meinung ist.

Dann könnten Kommentare wie:

„Das ist nicht mein Stil.“

„Der Übergang ist nicht sauber.“

„Für mich wirkt der Look altbacken.“

… nicht mehr wie Pfeile wirken, sondern wie Spiegel.

Spiegel, die uns zeigen, wo wir stehen — und wohin wir gehen können.

Gedanke 5: Vielfalt erzeugt Reibung — und Reibung erzeugt Fortschritt

Stell dir eine Welt vor, in der alle dasselbe sagen: „Toll! Schön! Perfekt! Super!“

Eine Welt ohne Reibung, ohne Diskussion, ohne Kontrast.

Es wäre die langweiligste Welt der Kreativität.

Denn echte Kunst entsteht nicht im Gleichklang.

Sie entsteht im Widerstand.

Im Widerspruch.

In der Auseinandersetzung.

Vielfalt bedeutet Unterschied.

Unterschied bedeutet Spannung.

Spannung bedeutet Energie.

Ohne diese Energie kann eine Branche nicht brennen.

Gedanke 6: Kritik ist kein Feind, sondern Treibstoff

Am Ende des Gedankenspiels lande ich bei einem einfachen, fast befreienden Satz:

Kritik ist kein Angriff. Kritik ist ein Kompass.

Sie zeigt uns nicht, wer wir sind — sondern wer wir werden können.

Und vielleicht ist es an der Zeit, dass wir wieder eine dickere Haut entwickeln. Nicht, weil die Welt brutaler geworden ist, sondern weil wir stärker werden wollen.

Wir brauchen keine weichere Welt.

Wir brauchen nur Menschen, die Kritik nicht mehr als persönliche Bedrohung sehen, sondern als Teil eines lebendigen Dialogs.

Sichtbarkeit ohne Kritik gibt es nicht.

Kreativität ohne Risiko gibt es nicht.

Wachstum ohne Reibung gibt es nicht.

Und genau deshalb ist Kritik nicht unser Feind — sondern unser größter Verbündeter.