Das Ding sitzt halt auf dem Hals und da wachsen ein paar Haare raus…

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Zwischen Rückspiegel und Ausblick auf 2023: Andreas Sebastian Ehrle
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Zwischen Rückspiegel und Ausblick auf 2023: Andreas Sebastian Ehrle

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Weihnachtszeit. Zeit zum Sinnieren. Andreas Sebastian Ehrle lässt ein Jahr Revue passieren, das es in sich hatte. Vieles hat sich verändert. Die Welt, die Salonkund*innen und er selbst. Aber eines blieb gleich: seine Liebe zum Friseurberuf. Andis besonderer Jahresrückblick.

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Es ist Mitte Dezember. Vor genau fünf Jahren hat sich mein Leben geändert. Nachts. Gegen halb drei. Einfach so, wie aus dem Nichts, konnte ich mich plötzlich nicht mehr bewegen. Natürlich kam es nicht aus dem Nichts! Ich hatte die Jahre davor genug dafür getan. Ich musste mich vom Krankenwagen in die Klinik bringen lassen. Von diesem Moment an bis heute sind bei mir zehn Bandscheiben am Arsch. Wenn das Leben Leidenschaft und auch Last ist. So fühlt sich das seitdem leider an. Trotzdem stehe ich da, täglich in meinem Salon und mache meinen Job. Mit heftigen Schmerzen, aber eben auch mit der Liebe hinterm Stuhl. Als Beamter wäre ich bestimmt längst in Frührente, aber als Selbstständiger… Da heißt es: Ab an die Front und weiterkämpfen.

An den Satz: „Das Ding sitzt halt mal auf dem Hals und da wachsen ein paar Haare raus…“ denke ich im Moment echt verdammt oft. Darüber spreche ich extrem viel im Salon und mit Sicherheit beschäftigt es Euch alle genauso wie mich. Was meine ich damit? Ich komme schon seit ein paar Jahren nicht mehr so damit klar, dass die Kund*innen sich leider zu einem ganz großen Teil verändert haben. Sie haben nicht mehr diese Leichtigkeit bei mir im Stuhl. Ihnen fehlt gefühlt die Freude, das Lächeln im Gesicht und die Freiheit, die sie sonst so hatten. Es wird viel über diese verdammten negativen Themen gesprochen. Das kann ja nicht nur an der Winterdepression oder dem kalten und düstern Wetter im Moment liegen.

Gibt’s auch positive Themen?

Warum sind unsere Kund*innen so drauf? Na ja, die Menschen werden doch von morgens bis abends ständig mit negativen Themen zugehämmert – TV, Radio, Zeitung. Zeitung von hinten lesen beginnt dann mal mit den Todesanzeigen, von vorne nur mit dem Shit, der im Moment in der Welt passiert: Krieg, Inflation, Corona, Influenza, die vielen armen Kids, die es da echt heftig erwischt, die Wirtschaftskrise, die Energiekrise. Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht, aber ich selbst gebe mir das seit einer Weile nicht mehr. Kein Fernseher, keine Zeitung, kein Radio, also keine Medien. Die GEZ bekommt trotzdem noch Kohle von mir, fällt mir beim Schreiben gerade auf. Das könnte ich ja eigentlich mal abmelden… Die Frage ist halt auch, ob ich das mediale Zeug überhaupt brauche, wenn das Thema Nummer eins im Salon nur dieser komplette Mist hier ist. Da wirst du ja voll informiert – ob du willst oder nicht. Ich versuche ständig, andere Themen anzuschneiden. Das klappt aber nur begrenzt. Wie geht‘s Euch damit hinterm Stuhl? Kommentare gerne im Feed.

Alle sparen. Wir und unsere Kund*innen auch

Ich denke und auch mein Gefühl sagt mir, dass die Leute heftig Angst haben. Angst, dass das Geld knapp wird. Das ist es ja auch schon bei vielen und alles wird teurer. Wir sind mitten im Winter und wir frieren. Überlegen genau, welchen Raum wir in unserer Bude betreten, wo wir das Licht anmachen. Die Heizung aufdrehen oder besser noch warten? Den Kühlschrank gut ordnen, nichts sollte ablaufen und am Ende im Müll landen. Klamotten kaufen? Zum Glück ist der Schrank am Überlaufen. Essen gehen? Klar, ist schön, aber geht das gerade? Egal, bei was auch immer. Wir verhalten uns vorsichtiger mit den Ausgaben. Versuchen das, was wir an Geld haben, zu halten. Wenn kein Puffer da ist, dann geht das ja eh nicht. Wieso sollte es dann beim Friseur anders sein? Im Oktober und im November hatten wir so viele Absagen wie noch nie im Salon. Einige kamen auch einfach nicht, ohne abzusagen. Das ist richtig unfair, denn es wird dir die Chance genommen, Termine neu zu vergeben. Und das in dieser eh schon schweren Zeit. Ebenfalls eine neue Angewohnheit: Bei uns fangen die Kunden an zu fragen, was es kostet. Das gab es früher nicht. Sie sitzen da und wollen die Preise vor der Behandlung definiert haben. Was kostet der Schnitt, was kostet die Farbe mit Strähnen, was ohne? Dann erst entscheiden sie – haben dabei aber die volle Zeit schon im Vorfeld gebucht. Aus drei geblockten Stunden kann dann ganz schnell nur eine werden. Na toll, denke ich mir da! Ich höre auch öfter, dass wir teuer sind. Klar, wir sind nicht preiswert, aber wie schon so oft definiert: wir sind unseren Preis wert!

Wir sind so viel mehr als „nur“ Friseur*in

Wir nennen uns Friseur*innen. Ist das vielleicht unser Problem? Was denken denn die Leute über uns? Erst Hauptschule, dann Ausbildung. Und weil du nicht weißt, was du machen willst, wirst du halt mal Friseur*in. Bisschen Haareschneiden und quatschen. Ist doch easy. Haha – eben so ist es nicht! Wir sind eure/r Freund*in, hören euch zu, sind die Berater*innen in der Not. Die besseren Psycholog*innen. Eure Auszeit im Krieg des Lebens. Schöner machen wir euch auch noch und schicken euch mit einem guten Gefühl zurück ins Leben. Ist das vielleicht nicht auch mal ein paar Euro wert? Dazu kommt noch: Das Ding sitzt halt mal auf dem Hals, und da wachsen paar Haare raus. Das sieht jeder – und du selbst auch. Da gibts nicht wirklich eine Klamotte für, die das komplett bedeckt. Oder?

Wer sind wir?

Ich selbst sehe mich nicht mehr als Friseur. Ich bezeichne mich als Handwerker. Und das sind wir. Aber leider eben in einem schlecht bezahlten Handwerk. Dabei ist es doch so: Diese gesamte Leistung bietet sonst niemand. Egal, welches Handwerk auch immer Euch einfällt: das komplette Paket bekommt man nur bei uns. Und jetzt? Was kosten wir denn pro Stunde? Für einen Damenhaarschnitt nehme ich 62 Euro inklusive Mehrwertsteuer. Für viele zu viel. Uns wird von Businessprofis empfohlen: 100 Euro pro Schnitt oder sogar mehr. Wer soll das denn bezahlen, wer kann oder will das denn bezahlen? Woanders wird das Geld halt lockerer bezahlt. Nicht, weil die Kund*innen wollen. Schon klar. Aber weil sie müssen. Bei Schreiner*innen, Maler*innen, Lackierer*innen, im KFZ-Gewerbe, bei Gas und Wasser. Was auch immer. Ich glaube nicht, dass da eine/r morgens für 62 Euro brutto pro Stunde an den Start geht. Das macht mich wütend, es ärgert mich. Wir werden nicht gesehen, haben keine Lobby und werden obendrein noch belächelt. Veränderung

IN den Köpfen

Bürgergeld, auch so ein Thema. Ich bin zwar kein Politiker und kenne mich nicht wirklich damit aus, aber ich glaube, dass das in schlecht bezahlten Berufen zum Problem werden könnte. Da lohnt es sich halt bald nicht mehr, morgens aufzustehen und arbeiten zu gehen – damit am Ende dann mal vielleicht nur 200 Euro mehr bleiben. Und genau hier liegt das Problem. Warum muss man in Deutschland offenbar studieren, um ordentlich zu verdienen? Wenn unser Job, den wir machen, nicht endlich eine andere finanzielle Anerkennung bekommt, wird es nicht mehr lange gut gehen. Unternehmer*innen werden die Mitarbeitenden nicht gut genug bezahlen können, da Kund*innen eben genau das nicht bezahlen können oder wollen. Das wäre vielleicht mal eine Anregung an die Politik, da nachzubessern und auch eine finanzielle Hilfe für Mitarbeitende anzubieten, die noch arbeiten. Einfach etwas Geld vom Staat aufs Gehalt packen und dadurch zum Weitermachen zu motivieren. Schöner Traum, oder?

Weniger ist mehr

Zum Jahresende verlässt mich ein Mitarbeiter. Krankheitsbedingt. Bekomme ich denn da einfach so einen Nachfolger? Der Friseurmarkt ist abgegrast. Neue kommen nur wenige nach. Und wenn, dann wollen sie sich gleich selbstständig machen. Einige meiner Kolleg*innen arbeiten mittlerweile nur noch zu zweit. Oder sogar allein. Sie hatten mal ein großes Team. Auch ich habe entschieden, dass wir den freien Platz nicht neu besetzen. Ich freue mich sogar darauf, dadurch wieder mehr auf meine Kund*innen eingehen zu können und weniger nach anderen schauen zu müssen. Ich selbst habe zwei Joker mit meinen zwei Kids. Mal sehen, ob eins von ihnen oder sogar beide später sehen, was unseren Job zur Leidenschaft macht und Rücken an Rücken mit mir hinterm Stuhl stehen werden. Ich selbst komme aus dem Friseurladen meiner Oma und gehöre in meinen. Tradition und Liebe verbindet und Blut ist dicker als Wasser.

Jetzt sind es nur noch wenige Tage in diesem turbulenten Jahr. Was kommt 2023? Das wissen wir alle nicht. Was wir aber wissen, ist, dass es diesmal nicht wirklich in unseren Händen liegt. Trotzdem freue ich mich drauf. Bei mir geht‘s ab hinter den Stuhl. Ich bin ein Friseur und ich bleibe ein Friseur! Egal, wo auch immer es hingeht. Ich wünsche Euch frohe Weihnachten und einen guten Rutsch – ohne auszurutschen.

Euer Andi

 

Wie steht es eigentlich um den Friseur-Beruf? Mehr zum Thema: „Traumberuf Friseur?“