„Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ – dieser Satz ist ein absolutes No-Go!

FMFM -friseu----Graf-Site

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Annemarie Graf ist Herzensfriseurin und hat einen Wunsch: dass möglichst viele Friseurkollegen ihre echte Leidenschaft an den raren Nachwuchs weitergeben! Wie das gelingen kann und warum es wichtig ist, dass Sätze wie „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ endlich der Vergangenheit angehören, erfahrt Ihr hier.

Anzeige

Anzeige

Da sitze ich und mir laufen die Tränen über die Wangen. Tränen der Freude und der Hoffnung auf Zukunft. Es ist die Zeugnisausgabe zum Abitur meiner Schwester, und ich sehe 50 Abiturienten, denen die Zukunft offensteht. 50 unbeschriebene Blätter, 50 Träume und 50x die Chance, diese Welt zu verbessern.

Und da kommt er, der Flashback zu meiner eigenen Abiturfeier. Damals hatte ich kurz vor dem Abschluss alle Studienpläne hingeschmissen und entschieden: „Ich werde Friseurin!“ Lautstark und stolz stand ich da und präsentierte meinen (doch eher nicht so begeisterten) Eltern diese Entscheidung. Was auf mich zugerollt kam, war unerwartet. „Du wirst ja NUR Friseurin.“ „Schmeiß doch dein Wissen nicht so weg.“ „Du wirst niemals Geld verdienen.“ Die Liste ist lang, und ich bin sicher, dass all diese Sätze keinem aus der Branche unbekannt sind, oder? Zur Zeugnisausgabe kam meine Direktorin zu mir. „Geh deinen Weg, Du wirst etwas verändern.“ Wie positiv von ihr. Doch bis dahin lag noch ein langer Weg vor mir.

Die Ausbildung im Salon meiner Eltern war 2010 schon entfernt von normal. Vielleicht, weil ich das Kind war? Vielleicht, weil meine Eltern angefangen haben, meine Talente zu sehen und zu fördern? Wahrscheinlich beides. In meinen zwei Ausbildungsjahren habe ich unzählige Seminare besucht, einen großen Kundenstamm aufgebaut und jeden Tag gespürt, dass ich als Friseurin ernstgenommen werde. Was sollte ich da also bemängeln? Rückblickend gesehen war ich also überhaupt kein normaler Lehrling: Ich bin im familieneignen Unternehmen groß geworden, ich wusste wofür ich arbeite und hatte das Bestreben, den guten Ruf meines elterlichen Salons weiter voran zu treiben. Lauter gute Voraussetzungen, die nur die wenigsten haben.

Die Herausforderungen der aktuellen Ausbildungssituation

Heute und damals habe ich mich jedoch umgeschaut und reflektiert. Und wenn ich heute die zurückgehenden Ausbildungszahlen sehe, frage ich mich: „Warum?“ Ich frage nicht nach der Schuld. Zu hören bekomme ich häufig, dass es an den jungen Menschen liegt. Tenor: Sie sind nicht selbstständig erzogen, können die einfachsten Haushaltsarbeiten nicht, sie wollen nur frei und haben keine Lust zu arbeiten. Was sind denn das für Voraussetzungen für eine gelungene Ausbildung? Sätze wie „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ und „Mir hat das auch nicht geschadet, also verlange ich das auch von meinen Auszubildenden“, bilden da nur die Spitze des Eisbergs. Eins steht auf jeden Fall fest: Wir haben einen Fachkräftemangel, und kaum jemand hat noch Lust auszubilden.

Das Konstrukt Ausbildung steht auf drei Säulen: Da sind der angehende Azubi samt Umfeld, der Ausbildungsbetrieb und die Schule. Wenn diese drei Pfeiler nicht gerade ausgerichtet und standfest sind, sondern irgendwo bröckeln, dann hält darauf auch das Dach Friseurhandwerks nicht, das ist mal klar.

Die Bedürfnisse und Eigenarten der Generation Z verstehen

Um Lösungsansätze für eine gelungene und angesehene Ausbildung als Friseur*in zu nennen, sollten wir alle mal einen Schritt nach hinten gehen. Raus aus unseren alten Glaubenssätzen und raus aus dem „Das haben wir schon immer so gemacht, das muss auch jetzt funktionieren.“ Schauen wir uns die Eigenarten und Bedürfnisse der aktuellen Azubigeneration an bemerken wir, welche Stellschrauben wir drehen müssen, um dem Friseurhandwerk wieder die gewünschte Stabilität zu geben.

Wir sprechen über die Generation Z. Eine Generation, der Nachhaltigkeit am Herzen liegt, die im digitalen Zeitalter aufgewachsen ist und deren höchste Priorität Familie und Freunde sind. Sie legen Wert auf Gesundheit, Freiheit, Individualität, Gerechtigkeit und Diversität. Kaum ein junger Mensch in dieser Generation geht verträumt durchs Leben. Sie sind sehr realistisch und suchen nach dem Sinn ihrer Beschäftigung. In ihrer Sicht der Selbstverwirklichung hat Work-Life-Balance keine Chance. Sie wollen die klare Abgrenzung von Arbeit und Freizeit und haben den Anspruch, dass ihre Persönlichkeit mit ihrem Job zusammenpasst. Und dieser Job sollte einen modernen Arbeitsplatz, klare Strukturen und komfortable Arbeitszeiten (Überstunden sind ein No-Go) bieten. Und wenn wir jetzt ehrlich zu uns selbst sind, dann ist diese klare Vorstellung und das gezielte Umsetzen dieser Ziele doch ziemlich beneidenswert, findet Ihr nicht?

Nun ist es aber so: Das Friseurhandwerk hält als Traditionshandwerk sehr gerne an eingefahrenen Strukturen fest. Die Schulen und das Ausbildungssystem ganz vorne dran. Seit Jahrzehnten werden Azubis stupide dieselben Lehrinhalte gelehrt. Zusammenhänge, die für diese Generation Z so wichtig sind, werden immer noch nicht gebildet. Das Erneuern der Lehrbücher und die Unterteilung in die einzelnen Bereiche hat da meiner Meinung nach nicht wirklich etwas besser gemacht.

Sicher, nach zwei Jahren intensiver Wiederholung ist der chemische Ablauf einer Dauerwelle im Hirn verankert. Der steht dann allerdings für sich allein da. Fragen à la „Wie hängt dieses Fachwissen mit Stylings, Farben und aktuellen Kundenbedürfnissen zusammen?“ und „Wie kann ich daraus nicht nur eine hübsche klassische Welle machen, sondern ganz neue Dienstleistungsbereiche für Kunden einführen?“ werden leider nicht beantwortet. All das geht ganz schnell an unserem Nachwuchs vorbei. Und Fakt ist: Wer nicht selbst nachbohrt, hat verloren.

Es ist also an den Ausbildungsbetrieben, diese Brücken gemeinsam mit den Lehrlingen zu bauen. Mein Vorschlag: Nehmt sie mit in die faszinierende Welt der Haare. Lasst sie eintauchen in die Kreativität, in eigenständiges Handeln und versucht ihnen nicht einfach Euren Stempel aufzudrücken.

Die Verantwortung der Ausbildungsbetriebe: Mentoren, Inspiration und neue Perspektiven

Ausbildung im Friseurhandwerk dient heute grundsätzlich nicht mehr allein der Zukunft des eigenen Betriebs. Wir dürfen uns doch glücklich über jeden schätzen, der unser Handwerk lernen möchte. Gebt euren Azubis Flügel, um genau das nach außen zu tragen. Lasst uns im Kopf frei machen von den „Investitionen“, die wir getätigt haben, um einen jungen Menschen auszubilden. Um dann sauer und verärgert zu sein, wenn er/sie nach der Ausbildung nicht bei uns bleibt. Diese Generation bleibt nun mal gerne unverbindlich. Wie könnte man darauf am besten eingehen? Sabbaticals oder Lehrlingsaustausch mit anderen Salons, wären nur zwei Möglichkeiten, um mehr von der Welt zusehen.

Wurzeln gebt Ihr Euren Auszubildenden, indem Ihr sie ernst nehmt und einbezieht. Hört Euch die frischen Ideen an, lasst sie mit in die Umsetzung gehen. Verantwortlichkeiten und der Stolz etwas Eigenes umgesetzt zu haben, mitreden zu können – das bindet an ein Unternehmen. Seid die Mentoren für sie, die mehr als fachliches Wissen vermitteln. Seid Vorbilder und Vorreiter für das gesamte Friseurhandwerk. Teilt eure Erfahrungen, und unterstützt eure Azubis in ihren Zielen.

Meine Überzeugung ist: Ausbildungsbetriebe haben die beste Möglichkeit, unserem Handwerk einen neuen Glanz zu verleihen! Die Verantwortung ist groß, ich weiß. Unser Ziel sollte es aber sein, ungeliebte Knockout-Sätze wie oben erwähnt gar nicht mehr aufkommen zu lassen. Damit angehende Azubis für ihre Berufswahl zukünftig gefeiert, statt bemitleidet werden.

Wir alle haben diesen wundervollen Beruf mit Leidenschaft begonnen. Es ist Zeit, diese Passion wie das olympische Feuer weiterzureichen. Lasst uns gemeinsam die Herausforderungen annehmen, um das Friseurhandwerk in eine aufregende Zukunft zu führen!

Eure Annemarie Graf

 

Über Annemarie Graf:

Annemarie ist Friseurmeisterin, leitete früher selbst zwei Salon und war  internationale Trainerin für eine bekannte Profimarke. Inzwischen hat sie eine Business Beratung und Marketing Agentur für Friseure und betreibt sie als  Autorin, Bloggerin und Podcasterin ihren „Schönsein.Blog“.  Das Multitalent ist zudem Mutter einer kleinen Tochter.

 

www.schoensein.blog

Instagram: schoensein_blog